Spätestens seit meinem Praktikum im Château d’Orion in Südwestfrankreich sind Märkte für mich Sehnsuchts- und Wohlfühlorte. Im Gegensatz zur künstlichen Ordnung von Geschäften sind sie von Natur aus chaotisch und unstrukturiert, und vermitteln das ebenso schöne wie trügerische Gefühl von Regionalität, Tradition und dörflicher Verbundenheit. Zwischen dem Duft der Tee- und Gewürzstände, dem Anblick bunter Berge aus Obst und Gemüse und dem Klang der beständig-betriebsamen Geschäftigkeit der Händler entfaltet sich für mich die schönste Reizüberflutung seit es Sinneserfahrungen gibt. Märkte vereinen eine faszinierende Mischung aus skurrilen Figuren und Ritualen aus verschiedenen Epochen, die sich für Außenstehende nur selten nachvollziehen lassen, und sind doch offen für alle, die bereit sind, sich auf sie einzulassen. So werden die Stände Treffpunkt für die Einheimischen, aber auch für Touristen und Zugezogene, und zum Ort der Begegnung verschiedener Kulturen, Schichten und Lebensrealitäten. Und trotz ihres Charmes eines behelfsmäßigen, wurzellosen Lagers, das ebenso schnell wieder verschwinden kann, wie die Holztische und Überdachungen aufgetaucht sind, sind Märkte eine wöchentliche Konstante in meinem Leben geworden.
Dass ich der Atmosphäre so hoffnungslos verfallen bin, ist auch ein bisschen die Schuld von Tobi, dem Schlossherren des Châteaus und leidenschaftlichen Marktflâneur: Fast jede Woche nahm er mich während meines Praktikums auf einen der Märkte im Béarn und seiner Umgebung für die Erledigung der Wocheneinkäufe mit, und genauso oft konnte er sich mit einem vergnügten Kopfschütteln immer wieder für die besondere Dynamik auf den Märkten der Region begeistern: Nicht nur für die Marktbesucher, sondern auch für die Verkäufer sind sie dort vor allem Treffpunkt und Gelegenheit für den Austausch von Neuigkeiten, und erst dann ein Ort zum Kauf und Verkauf von Waren. Als Tobi diese Beobachtung zum ersten Mal mit mir teilte, standen wir bereits seit 15 Minuten vor einem Käsestand auf dem Markt in Orthez, dessen Händlerin gerade zum Schwätzchen mit dem Nachbarn mit den Würsten verschwunden war und sich augenscheinlich nicht dafür interessierte, dass die zwei, drei Touristen, die sich für ihren Brie interessiert hatten, nach ein paar Minuten Wartezeit längst wieder verschwunden waren.
Märkte und ihre Besucher folgen eigenen Gesetzen, und bewahren oft Traditionen, die im Rest unserer rationalen, effizienzorientierten Welt längst untergegangen sind. Auf dem Mittwochsmarkt in Oloron zum Beispiel gehörte es zum Markttag dazu, um 9, spätestens 10 Uhr morgens in die örtliche Marktkneipe einzukehren und das aus Schweinsfüßen und einem Liter Rotwein bestehende „Marktmenü“ zu verspeisen. Nicht nur dem Rotwein ist es zu verdanken, dass ich mich kurz darauf beim Verlassen der Gaststätte auch noch ein klein wenig verliebte: Vollkommen ungerührt vom Treiben um ihn herum saß ein kleiner, gebückter Mann und flickte herzerwärmend gutgelaunt Korbstühle, Sessel und andere Sitzgelegenheiten. Inmitten von Tomatenverkäufern, Händlern mit Safranhonig und Backwarenständen war es nicht er, der fehl am Platz und aus der Zeit gefallen wirkte; es waren die gehetzten Anzugträger, die sich hier nur schnell ein Mittagessen holten, die nicht so Recht ins Bild zu passen schienen.
Aber schon während meines Auslandssemesters in Maastricht in den Niederlanden im Herbst 2013 war der Besuch des Wochenmarkts eine feste Routine – und zwar zum Containern. Irgendwann fiel einem der Markthändler auf, dass seine am Straßenrand deponierten Obst- und Gemüsepaletten nicht von der Müllabfuhr, sondern von einer stetig wachsenden Gruppe von Studierenden mit großen Fahrradtaschen abgeholt wurden, und er schlug uns einen Deal vor. Von da an halfen wir ihm beim Abbauen, und durften dafür auch legaler Weise mitnehmen, was ohnehin nicht zur Weiterverwendung gedacht war – manchmal über 40 Kisten mit Tomaten, Trauben, Spinat, Salat, Petersilienbündeln und anderen Lebensmitteln. Irgendwann haben wir in meinem Freundeskreis die Regel eingeführt, jede Woche ein Obst oder Gemüse vor dem Verrotten zu retten, das man vorher noch nie zubereitet oder mindestens seit der Kindheit nicht mehr gegessen hatte. In meinem Fall führte das zur Wiederentdeckung von Litschis, zu einem Stapel mit Rezepten für die Zubereitung von Algen und unterschiedlichster Sorten Kohl – und zu Mangold als immer noch festem Bestandteil meiner Winterernährung.
Der Markt in Jerusalem ist im Vergleich zu den kleinen Ansammlungen von Verkaufsständen, die ich in Friedrichshafen, Maastricht und Südwestfrankreich kennengelernt habe, eine richtige Institution. Jeden Tag – mit Ausnahme des Shabat – herrscht hier von morgens bis spät in die Nacht ein buntes Treiben. Ab 8:30 Uhr bauen die Händler ihre Stände auf, um die Mittagszeit füllen sich die vielen kleinen Restaurants, Cafés und Imbisse mit Gästen und gen Abend verwandelt sich der Markt in eine Kneipen- und Barzeile mit ausgelassener Stimmung.
Vor allem tagsüber ist der »Shuk«, wie ihn die Israelis nennen, Treffpunkt für Händler und Käufer; Einheimische, Touristen und Zugezogene aus aller Welt. Zwischen den Ständen finden sich immer wieder auch Kleinkünstler oder orthodoxe Juden, die CDs mit Thora- und Talmudlesungen oder jüdischer Musik verkaufen.
Containern lässt sich dort nicht wirklich, dafür führt die »Immer etwas Unbekanntes«-Regel zu deutlich farbenfroheren Ergebnissen als in Maastricht: In Israel habe ich zum ersten Mal eine Maracuja gegessen, mich in den leicht vanilligen Geschmack von Persimonenfrüchten verliebt und auf einer meiner anfänglichen Erkundungstouren knallpinke Drachenfrüchte erbeutet. Und meine Ernährungsgewohnheiten haben sich in den Monaten hier ganz schön verändert: Ich kann inzwischen Granatäpfel, Süßkartoffeln und Sesampaste aus meinen Küchenvorräten genauso wenig wegdenken wie die vielfältigen Kichererbsen, die unter anderem Hauptbestandteil von Falafelbällchen sind. Und auf der Suche nach Rezepttipps für selbstgemachten Hummus habe ich ein neues Lieblingsgewürz entdeckt: Za’atar! Die arabische Gewürzmischung aus (gerösteten) Sesamkörnern, Sumach, Thymian, Oregano und Majoran schmeckt auch auf Brot mit Olivenöl, eignet sich zum Würzen von Salaten und Kartoffeln und eigentlich auch allem anderen, das mal einen neuen Geschmacksanstrich braucht.
Gestern war Za’atar einmal mehr das i-Tüpfelchen für ein Gericht aus Süßkartoffeln, Feigen, Frühlingszwiebeln und Feta, nach einem Rezept des israelischen Starkochs Yotam Ottolenghi, das ich im Blog von Eva gefunden habe. Doch auch ohne Za’atar lohnt das Nachkochen der wirklich sensationellen Kombination aus würzig und süßlich, die mich schon durch die Geruchs- und Geschmacksexplosion jedes Mal wieder ins bunte Treiben des Shuks zurückversetzt. Vielleicht klappt das ja sogar aus der Ferne? Ausprobieren dringend empfohlen!