Ausgebeutete Fassaden

Zum Repertoire der Geschichten über die Großstadt gehört die Erzählung der Gentrifizierung: Ein Stadtteil mit günstigen Mieten wird von dort lebenden und arbeitenden Künstler*innen aufgewertet, bis die Nachbarschaft zum Szenekiez wird. Was folgt, regelt in dieser Geschichte meist die unsichtbare Hand der steigenden Mieten. Nur selten werden Proteste der verdrängten Bewohner*innen so laut wie die um den Golden Pudel Club und das Nachbargelände im Hamburger Stadtteil St. Pauli in den 1990ern oder die um die Berliner Kneipe Syndikat im August 2020; nur hin und wieder werden aus unsichtbaren Händen auch medial sichtbare Investoren, Räumungsbescheide und Gerichtsvollzieher bis hin zu Schlagstöcken und Wasserwerfern.

Und dann? Erschöpft sich der durch die Künstler*innen und ehemaligen Bewohner*innen geschaffene Mehrwert im Verweis auf eine lebenswerte Lage und mögliche Nutzungsweisen, in architektonischen und/oder auratischen Überbleibseln; und bleibt er also, wenn er einmal geschaffen wurde? Oder verschwindet er mit denen, die ihn geschaffen haben – oder eben vielmehr schaffen, als andauernden Prozess der Herstellung, Belebung und Irritation einer Nachbarschaft? Während die einen Letzteres behaupten, machen die anderen ihr Geschäft mit dem Versprechen auf Ersteres. Zur Dramaturgie der Gentrifizierung gehört bezeichnenderweise eben kein, oder zumindest kein in Geld bezifferbarer, Wertverlust der Grundstücke und Gebäude nach ihrem Einsetzen. 1903 wies Georg Simmel in seinem Aufsatz über „Die Großstädte und das Geistesleben“ darauf hin, „analog zur Form der Vermögensentwicklung“ vergrößere sich in der Großstadt „in immer rascheren Progressionen und wie von selbst“ der „Gesichtskreis, die wirtschaftlichen, persönlichen, geistigen Beziehungen der Stadt, ihr ideelles Weichbild [..] sobald erst einmal eine gewisse Grenze überschritten ist.“ Und in der Geschichte der Gentrifizierung scheint so selbstverständlich, dass sie, einmal in Gang gesetzt, nur noch das Gesetz der Wertsteigerung und nicht seiner -minderung kennt, dass weder ein Zögern über Verhältnis und Rollenverteilung von Parasit und Wirt noch die Frage, ob es denn noch etwas anderes als den Schutz des Eigentums und des Spekulationsinteresses geben könnte, das bewahrenswert sein könnte, in der Erzählung überhaupt noch auftauchen.

„Dieser Ort hat natürlich extrem viel Geschichte jetzt schon, und wir hoffen, dass dieses Areal auch weiterhin, über das Tacheles hinaus, eine schöne Geschichte hat, für die nächsten Jahrzehnte, vielleicht Jahrhunderte.“ Mit diesem Zitat der Journalistin Bettina Rust beginnt das Marketingvideo zur Grundsteinlegung auf der Website des Neubaus „Am Tacheles“ auf dem ehemaligen Gelände des Berliner Kunsthauses Tacheles, auf die Janis El-Bira im Auftakt seiner Kolumne „Straßentheater“ bei nachtkritik aufmerksam macht. Einen Zitatgeber im Video weiter spricht Sebastian Klatt, Geschäftsführer des Projektentwicklungsunternehmens pwr development, davon, dass man „bezugnehme auf die historische Struktur“, die „mehr [sei] als das Kunsthaus Tacheles“. Mehr als, über das Tacheles hinaus: Während einerseits das Gebäude – das 1990 durch die Besetzung durch die Künstler*innen und einen Antrag auf Denkmalschutz vor der Sprengung bewahrt und im Anschluss von diesen bis 2012 genutzt wurde –, und der Name des Kunsthauses für den Neubau Am Tacheles übernommen werden, wird bei Grundsteinlegung und Auswahl der Zitate im Video andererseits feierlich in Szene gesetzt, dass mit dem Neubau (auch) etwas hinter sich gelassen werden soll.

Fassade eines Verwertungsmarkts

Die Frage, was erhalten und was überwunden werden soll, stellt sich eben schon – nur eben nur für die (neuen) Eigentümer und mit vermeintlich klar verteilten Rollen. Das Kunsthaus wird im Video zur Geschichte erklärt, deren nützliche, lukrative oder reputationsversprechende Aspekte man sich – auch der Titel von El-Biras Kolumne „Geschichte als Beute“ verweist darauf – aneignen kann, während unbequeme (u.a. Bewohner*innen, Mietfreiheit/symbolische Mieten, Nutzung für Kunstateliers) überwunden werden können. Das Gebäude und die Fassade des ehemaligen Kunsthauses werden von einer der Architektinnen zur „1909 geboren[en]“ „alten Dame“ personifiziert, der man durch den Umbau „eine nötige Art von Respekt wieder zurückverschaff[en]“, eine „Würde wiederzurückgeben“  wolle – als sei ihr dieser zuletzt nicht entgegengebracht worden; als habe sie diese – ob durch Alter oder durch die vorige Art der Nutzung wird nicht explizit benannt – verloren. Im Video offenbart sich so zum einen – wie auch im Fall des Humboldt Forums/Berliner Schlosses – eine deutliche – und auch für den Denkmalschutz charakteristische – Präferenz für die Bewahrung (eigentlich: Rekonstruktion, Aneignung) von Form und Fassade im Kontrast zur Räumung und zum Austausch des Inhalts, zum anderen die bemerkenswerte Überzeugung, dass das eine ohne das andere erhalten oder übernommen werden kann.

Werbung für Unboxing, das Auspacken und Kommentieren von Objekten in Youtubevideos, an der Fassade der Baustelle des Humboldt-Forums im Berliner Schloss

(c) Jean-Pierre Dalbera

 

Mit dem Claim „Wir sind nicht die Fassade eures Verwertungsmarkts“ kritisierten Anfang des Jahres alternative Berliner Haus- und Kulturprojekte mit der Unterstützung prominenter Kulturschaffender in einem offenen Brief die Aushöhlung der Berliner Subkultur bei gleichzeitigem Verkauf ihres rebellischen Images. Doch auf eben diese Möglichkeit zur nicht nur möglichen, sondern sogar gewinnbringenden Unterscheidung von Form und Inhalt setzt die Selbstdarstellung des Neubaus „Am Tacheles“. Erwähnung von Kunst und Kultur kommen in dieser Inszenierung nur in zwei Formen vor: Als Versprechen auf ein kreatives, urbanes Lebensgefühl durch den „Geist des Tacheles“ (Marion Heine, Geschäftsführerin der PR-Agentur) einerseits, und als Verabschiedung und ein In-Grenzen-Weisen der Kunst selbst andererseits; in Formen zwischen kommodifizierender Aneignung, pflichtschuldiger Huldigung und der Demonstration von (neuen) Macht- und Hierarchieverhältnissen. So kommt in der Ankündigung des ehemaligen Berliner Bürgermeisters Klaus Wowereit, in der Übernahme des Namens liege auch „das Versprechen, dass man in dem alten Tacheles auch Kultur ermöglicht“ (von Kunst, wie im „Kunsthaus Tacheles“, ist im Video kein einziges Mal die Rede),  vor allem zum Ausdruck, was als selbstverständlich angenommen, was als vorgesehen betrachtet, und was nur möglich gemacht wird – und von wem. „Man“ wird der „Kultur“ – um im Jargon des Videos zu bleiben – Herr, indem man ihr klar umgrenzte Flächen und eingetaktete Zeitfenster zuordnet, die ihr genauso wieder genommen werden können. Das Versprechen auf Ermöglichung verschiebt sie gleich zweifach in die Potentialität: In die eines Versprechens, das gebrochen werden, und in die einer Möglichkeit, die, wenn nicht (im Sinne des Ermöglichers) wahrgenommen, auch widerrufen (und anderem gegeben) werden kann.

Mehr Abwesenheit

Nötig zur Aufrechterhaltung der Fassade scheinen Kunst und Kultur nur noch als „Geist“, nicht in Form ihres Vorhandenseins oder gar Inhalts. Schon die Aneignung des Namens Tacheles selbst verweist auf dieses Spannungsverhältnis: Während zum einen die in der DDR gegründete Künstlergruppe mit ihrer Namensgebung noch widerständig das Recht auf freie Meinungsäußerung, auf die Möglichkeit, Klartext reden und auch unbequeme Positionen vertreten zu können, hatte verteidigen wollen, kündigen die Architekten des Büros Herzog & de Meuron im Video an, die Passage „Am Tacheles“ werde „ein Passstück, das nicht besonders auffallen will“; es sei, so der Bezirksstadtrat von Berlin Mitte Ephraim Gothe, „so sinnfällig“ gewesen, die „scharfe Ecke mit einer Abkürzung versehen“. Zum anderen hat man eben diesen Namen nicht selbst, sondern in Form eines Verweises auf das Abwesende übernommen: Vom „Tacheles“, das ursprünglich die Selbstzeichnung der Künstlergruppe war und dann der des Kunsthauses wurde, ist nur die Ortsbezeichnung übrig geblieben; „Am Tacheles“ suggeriert, dass sich das Tacheles im Umkreis befinde, und hinterlässt gleichzeitig das neue Gebäude selbst namenlos.

In der intendierten Nutzung des Geländes und Gebäudes, so die Projektplaner*innen und Architekt*innen, orientiere man sich nicht an der Zeit des Tacheles, sondern wolle die „Passage wiederbringen“, als die es 1907/1908 gebaut wurde (und die noch im Jahr ihrer Eröffnung Konkurs anmeldete). Die folgenden Nutzungen des Areals – darunter seit den 1930ern durch die NSDAP und später die SS, in der DDR durch den Freien Deutschen Gewerkschaftsbund, verschiedene Einzelhändler, eine Artistenschule, eine Hundeschuranstalt, die Fachschule für Außenwirtschaft sowie die Nationale Volksarmee – bleiben im Video unerwähnt. Stattdessen eben, mit einem weitgehend unkommentiert bleibenden Zeitsprung: Wiederbringung einer Passage; der Gebäudeform, ausgehend von der Walter Benjamin Anfang des 20. Jahrhunderts exemplarisch beobachtete, dass die Erzeugung von Illusion im 19. Jahrhundert nicht mehr von der Kunst, sondern von der Realität geleistet wird; dass sich „Gestaltungsformen“ durch die Entwicklung der Produktivkräfte von der Kunst emanzipiert haben; dass die Kunst ihr Monopol auf Kreativität verloren hat. Die Selbstinszenierung im Video entwirft die Passage als Fassade; nicht die Anwesenheit der Kunst wird mit Wertsteigerung verknüpft, sondern gerade ihre Abwesenheit. Während auf der Website mit „Mehr Lebensgefühl“ das Wohnen, mit „Mehr Tatendrang“ das Arbeiten, mit „Mehr Herzklopfen“ das Einkaufen beworben wird, wirbt „Mehr Kultur“ für – Kultur.  Charakteristisch scheinen auch gerade nicht die nicht weiter definierten, austauschbaren Schlagworte, sondern das Versprechen auf mehr selbst (versprochen wird auch „Mehr Mitte“, „Mehr Vision“, „Mehr Geschichte“), die von Simmel beschriebene immer raschere Progression zu sein; die Abwesenheit von früher dagewesener Kunst wird darin zum Marker des Schwellenübertritts.

Benjamin beobachtet für das 19. Jahrhundert, die Kunst ziehe sich aus der Produktion von Illusion zurück, um stattdessen Realität als Illusion und Fiktion, als Traum, wahrnehmbar zu machen. Man kann das mit Blick auf die Gentrifizierung als Pointe verstehen: Wer Wirt, wer Parasit ist, bleibt ungeklärt, eine Frage des Beobachters genauso wie die Rollenverteilung, die in der Erzählung von mächtigem Kapital gegen verdrängte, dem nichts entgegensetzen könnende Kunst in unaufhaltsamer Progression immer wieder behauptet wird.

 

 

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