„Du siehst sie nicht, weil du dich nie für sie interessiert hast“

Sandra Hüller feiert am Neuen Theater Halle mit dem FARN-Kollektiv und der Kleist-Überschreibung „Penthesile:a:s“ ihr Regie-Debüt mit einer Inszenierung über patriarchale Gewalt und eine Utopie von der Auflösung der Geschlechter – und deren Kritiker schauen nicht hin


Es ist eine eigenwillige Anordnung, in der Sandra Hüllers erste Regiearbeit beginnt: Der archaisch-mythisch anmutende Dialog zwischen Penthesile:a:s und Achill:e:s aus MarDis Kleist-Überschreibung „Penthesile:a:s“ wird von zwölf Schauspieler:innen vorgetragen, die über weite Teile der Inszenierung vom Publikum abgewandt direkt vor ihm in einer weiteren Stuhlreihe sitzen. Hin und wieder erheben sich einzelne von ihnen, um alleine oder in Kleingruppen in fast durchgehend stummen Abläufen einen Küchen-Nachbau zu bespielen, der in Ästhetik und Ausstattung in der Gegenwart verortet ist.

Sprachchor Richtung Kücheninsel © Falk Wenzel

Man hat gerade erst begonnen, sich auf die Form dieser Inszenierung einzulassen, da wirft Penthesile:a:s das Problem der nicht geteilten Wirklichkeit, des von unterschiedlichen Erfahrungen und Wahrnehmungsbereitschaften vorgeformten Blicks das erste Mal auf:

 

PENTHESILE:A:S
Sieh, Körper stehen auf […]
Frauenkörper stehen auf im Herzen eurer Städte.


ACHILL:E:S
Ich sehe sie nicht.


PENTHESILE:A:S
Du siehst sie nicht, weil du dich nie für sie interessiert hast
Du hast nie gelernt, sie anzuschauen
Du hast dir immer alles ausgedacht an ihrer statt.

 

Wer regelmäßig ins Theater geht, bekommt Übung darin, dem eigenen Blick und Verstehen zu misstrauen und die Störungen und Unterbrechungen der anderswo etablierten Wahrnehmungsroutinen zum Anlass zu nehmen, genauer hinzuschauen, hinzuhören, hinzuspüren, hinzuriechen. Sich darauf einzulassen, dass erst nach und nach etwas zu Verstehendes aus dem auf den ersten Blick Unverständlichen hervortritt. MarDis Stücktext Penthesile:a:s fordert dieses genauer und anders Hinschauen und Hinhören immer wieder explizit ein. Und die Inszenierung greift es auf, indem zu Hörendes und zu Sehendes einander nicht umstandslos bebildern – und so einladen, nach ihrem Zusammenhang zu fragen: Im Text antiker, archaischer Mythos und Geschlechterkampf, auf der Bühne eine Küche, die in unaufgeregter Alltagsroutine in fast mechanischen Abläufen bespielt und bedient wird. Im Text eine Bildgewalt aus Krieger:innen auf Pferden, explodierenden Eingeweiden, aus Kadavern, Körperflüssigkeiten, Geschlechtsteilen, Tier- und Landschaftsgemälden, in der Küche Papier- und Plastiktüten, ein tropfender Wasserhahn und weitgehend sprachlos ablaufende Gänge und Griffe, Schäl-, Schneide- und Rührbewegungen, dann zunehmend aus den Abläufen, Fenstern und Türen herausfallende oder -springende Körper.

Umso bemerkenswerter, wie bereitwillig ein großer Teil der Kritiker des Abends diese Einladung ausschlägt. „Das Regiekonzept des Abends ist es, Spiel und Text zu trennen.“, schreibt Matthias Schmidt auf nachtkritik, und erklärt sich die „inhaltliche Motivation dieser Küchen-Ersatz-Handlung“ dann mit der am Ende mit dem Publikum gemeinsam verspeisten Suppe; auch auf Georg Kasch im DLF Kultur wirken die „Küchenbilder rätselhaft“, bis sie sich ins „Tanztheater“ und gemeinsames Abendessen auflösen. Kaum einem der Kritiker kommt es in den Sinn, dass zu Sehendes und zu Hörendes etwas miteinander zu tun haben könnten und gleichzeitig über sich hinausweisen – auch dann nicht, als der Text es fast überdeutlich ausformuliert (Achill:e:s: Was willst du in diesem Krieg? / Penthesile:a:s: Welcher Krieg? Ich kenne nicht einen Tag, an dem es nicht zu kämpfen galt.) Und nur mit diesem Nicht-Hinsehen, Nicht-Hinhören lässt sich dann auch erklären, wenn Erik Zielke im neuen deutschland annimmt, Penthesile:a:s lange Passage zur übersehenen Diversität der Geschlechter der Frauenkörper, zu denen solche »fest wie Feuerstein« genauso gehörten wie welche »weich und feucht wie Gelatine«, diene einer binären „Unterscheidung der Geschlechter“ in „das eine […], das andere“. Wenn man nur sieht und hört, was man schon zu wissen glaubte, bleibt einem als Fazit dann auch nur ein „Nun ja, die Erkenntnis ist nicht neu“ – nur: mit Inszenierung und Text hat das dann nichts zu tun.

Sprünge, Klänge, Zusammenbrüche: Störungen der routinierten Abläufe © Falk Wenzel

So wirkt der Stücktext zwei Tage nach der Premiere stellenweise wie ein Kommentar zur Rezeption der Inszenierung; Penthesile:a:s an Achill:e:s gerichteter Vorwurf des Nicht-Hinsehens weniger wie eine Anklage aus vergangenen Zeiten als wie eine sich selbst erfüllende Prophezeiung. Vielleicht ließe sich die Inszenierung als Form des Erfahrbahr-Machens und der Erinnerung daran diskutieren, dass Wahrnehmung nicht einfach Wiederfahrendes ist, sondern ein von Erfahrungen gesponnenes, durch Neugier, Übung und Fokus verwobenes und verdichtetes und von blinden Flecken und Ignoranz durchlöchertes Netz.

Penthesile:a:s: „Das Geschlecht einiger ähnelt so sehr ihrem linken Ohr, dass sie mit ihrem Geschlecht hören.“ © Falk Wenzel

Auf nachtkritik vermutet Matthias Schmidt, der gen Ende der Inszenierung entworfenen Utopie könnten nur „Utopien-Kenner, die wissen, dass es immer schiefgeht, wenn der Einzelne nichts gilt und gleichgemacht wird, was nicht gleich ist“, widersprechen. Dabei hätte man auch 80 Minuten Differenzierung und immer komplexer werdenden Verflechtungen zusehen und -hören können – und die Utopie lag vielleicht vielmehr darin, dass Achill:e:s im Verlauf der Inszenierung ein Sehen-Wollender und Fragender wird.

 

 

 

 

Ein Kommentar

  1. Vielen Dank für die sehr präzise Metakritik!

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