Far together

Die meisten Menschen, mit denen ich während meines Studiums, im Praktikum oder beim Arbeiten Freundschaften geschlossen habe, sind das, was meine Omi „Rumtreiber“ nennen würde. Ihr WG-Zimmer ist häufiger untervermietet als dass sie dort wohnen, sie verbringen mehr Zeit auf den Websites von Flugsuchmaschinen als auf Facebook und sie halten den Übergang von „sesshaft“ zu „bettlägerig“ für fließend. Wenn ich ihnen einen Termin zum Skypen vorschlagen will, werfe ich vorher einen Blick auf die Zeitverschiebungstabelle über meinem Schreibtisch.

Ich lebe nicht in einer Fernbeziehung, ich lebe in vielen. Und mit jedem Versuch, sich gegenseitig die letzten drei Wochen an Ereignissen am Telefon oder per Mail in Worte packen zu wollen, wird offensichtlich, was während der geteilten Zeit Realität war und über die Distanz nur scheitern kann: Plötzlich fehlt das gemeinsame Erleben des Alltags; all die kleinen Dinge und Momente, Gespräche und Umarmungen, die bisher nicht nur meine Tage strukturierten, sondern auch unsere Freundschaft ausmachten. Sei es morgens um neun zusammen zur Bibliothek zu radeln, sich mit stummen Lippenbewegungen zur Kaffeepause zu verabreden und zwischendrin noch schnell im Supermarkt mit Nervenfutter einzudecken, oder die Möglichkeit, spontan an der Tür des anderen zu klingeln und den Sonnenuntergang am See oder über der Stadt gemeinsam zu genießen.

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Seensucht, die (schwäbisch): Eine Form von Heimweh.

Als ich im Sommer 2013 vom Praktikum in München zum Auslandssemester in Maastricht aufbrach und mein halber Freundeskreis in Fliegern zu neuen Studienorten auf dem ganzen Globus saß, hatte ich plötzlich ein flaues Gefühl in der Magengegend: Was, wenn das Ende des gemeinsamen Alltags auch das Ende der Freundschaft bedeuten würde? Ich machte mir Sorgen, wir würden uns aus den Augen verlieren zwischen all den neuen Erlebnissen, Abenteuern und Bekanntschaften, und hatte Angst, wir könnten uns in unseren unterschiedlichen Lebensrealitäten nichts mehr zu sagen haben.

Doch dann fehlte uns einfach nur die Zeit, um uns all das zu erzählen, was wir gerne miteinander geteilt hätten. Denn wir saßen zwar ein halbes Jahr lang an anderen Ecken der Welt, hatten aber immer wieder ähnliche Gefühle: Die Aufgeregtheit beim Reisen und den Stolz, wenn wir uns zum ersten Mal mit einem Einheimischen in der Landessprache verständigen konnten, genauso wie die Fremdheit in der Ferne und den Stress beim ständigen Wohnungssuchen und Umziehen zuerst im Ausland und dann beim Zurückkommen. Mit manchen meiner Freunde telefonierte ich während dieser Zeit wöchentlich ohne das alles gesagt worden wäre, mit anderen hatte ich in den sechs Monaten kein einziges Mal Kontakt und beim Wiedersehen dafür dann umso mehr Gesprächsthemen.

Zur Vertrautheit des geteilten Alltags ist während der Monate im Ausland eine Vertrautheit der geteilten Fremde hinzugekommen. Und bei jedem neuen Aufbruch rückt sie wieder in den Vordergrund, gibt Sicherheit und wird gleichzeitig belastbarer. Als ich mich bei J. über die 8€ für eine Packung Klopapier in Israel beschwere, erzählt sie von ihrem Praktikum in Äthiopien, wo die Einheimischen auf der Straße manchmal einzelne Blätter gekauft haben, weil sie sich keine ganze Rolle leisten konnten. P. berichtet von der Blase aus privilegierten Studenten und Expats in Indien, die sich eine eigene Infrastruktur aus Traditionen und Regeln im Land aufgebaut haben, und ich denke an die modernen Fitnesscenter, Bars mit Alkoholausschank und teuren Restaurants in Ramallah in der Westbank, in denen man fast keinen Einheimischen trifft. Und wenn ich versuche, S. das mulmige Gefühl beim Anblick von Gleichaltrigen mit Waffen zu beschreiben, das mich in Israel auch nach drei Monaten noch nicht verlassen hat, erzählt er von den Erlebnissen während seines Freiwilligen Sozialen Jahrs in Ruanda. Und ich fühle mich verstanden, ganz ohne lange Erklärungen.

 

 

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