Ungefähr zweimal im Monat bekomme ich Post von Eran. Ich habe mich mit Eran noch nie unterhalten, und weiß auch nicht, wie er aussieht. Trotzdem schickt er mir alle 14 Tage Mails, in denen er sich ein bisschen so anhört, wie sich meine Mutter angehört hat, als ich noch jünger war.
Angefangen hat alles kurz nach meiner Ankunft in Jerusalem. Eran empfahl „angemessene Kleidung“, den Einkauf von Nahrungsmitteln für mehrere Tage im Voraus und, ganz wichtig, den regelmäßigen Blick auf mein Handydisplay. Was war passiert? In Jerusalem wurde Schnee erwartet. Und wenn es in Jerusalem schneit, so kündigte Eran an, schließen die Supermärkte, der öffentliche Nahverkehr wird eingestellt, und die Uni hält mich über SMS auf dem Laufenden, ob meine Seminare stattfinden. Genau genommen hält Eran mich auf dem Laufenden – denn Eran ist Mitarbeiter im Office of Student Activities der Hebrew University. Neben Bekleidungs- und Einkaufstipps versorgte er mich auch mit dem aktuellen Wetterbericht und ausführlichen Erfahrungsberichten von vergangenen Schneefällen in Jerusalem und schloss, herzlich und hoffnungsvoll, mit „Stay warm!“.
Seit dieser ersten Mail hatten Eran und ich eine regelmäßige und harmonische, wenn auch zugegebenermaßen einseitige E-Mail-Beziehung. Bis vor drei Wochen eine sehr knappe Mail von ihm kam:
During the past week there have been heightened tensions in some of the East Jerusalem neighborhoods. We ask you to exercise caution and continue practicing situational awareness. Please contact the RIS madrichim and other staff members with any questions or concerns.
Dafür, dass Eran mich eigentlich immer sehr detailliert über alles informiert – von der Ankündigung von Wetterumschwüngen und möglichen Konsequenzen, über Änderungen im Busfahrplan, den Gründen dafür und den Ausweichmöglichkeiten, bis hin zu Straßensperrungen aufgrund von Feiertagen und genauen Informationen zum jeweiligen Anlass – war diese Mail sogar beunruhigend knapp. Wonach sollte ich denn Ausschau halten, und warum überhaupt? Wäre ich Beziehungsberater, ich würde Eran vorschlagen, an seiner Kommunikation zu arbeiten. Seine Brieffreundin, also ich, ging an dem Abend nämlich mit keinem allzu guten Gefühl ins Bett.
Dazu trug wahrscheinlich auch bei, dass ich schon Augen- und Ohrenzeugin der erhöhten Spannungen geworden war, auf die er sich bezogen hatte. Als ich nämlich zwei Tage vor seiner Mail meine Wohnung im Wohnheim in Ostjerusalem verlassen wollte, hinderte mich ein Sicherheitsbeamter im Flur daran. Eine Stunde später kam über Lautsprecher eine hebräische Durchsage, von der ich kein Wort verstand, und dann war plötzlich eine dumpfe Detonation zu hören. Als ich kurz darauf meine Tür öffnete, war der Sicherheitsbeamte verschwunden. Doch die Wachmänner, die ich abends fragte, was man denn da am Vormittag in die Luft gejagt habe, wussten seltsamerweise von nichts.
Dann kam Erans knappe Mail. Aber auch als ich bei der Uni nachfragte erhielt ich nur eine kurz gehaltene, fast schon unhöfliche Antwort: Keine Information, kein Grund zur Beunruhigung. Beim Heimkommen nahm dann vor dem Eingang zum Wohnheim gerade ein Trupp Uniformierter einen dort geparkten Kleintransporter bis auf das Metallgerüst auseinander. Die Securityfrau vom Einlass schüttelte natürlich wieder nur mit dem Kopf, als ich wissen wollte, was denn der Anlass für die offensichtlich erhöhte Alarmbereitschaft sei. Doch als ich den zerlegten Transporter mit dem Handy ablichten wollte, versperrte man mir den Blick.
Letzte Woche bekam ich dann wieder eine E-Mail von Eran. Er bat mich darin besorgt, doch bitte genug zu trinken. Auch Sonnencrème und einen Hut legte er mir nahe, und außerdem empfahl er mir, davon abzusehen, in der prallen Nachmittagssonne extremen Sportarten nachzugehen. Der Sommer halte nämlich Einzug in Jerusalem, und die Meteorologen rechneten mit 40° Celsius und mehr. Vor allem am 31. Mai müsse ich auf hohe Temperaturen vorbereitet sein. Er endete damit, dass er mir „cool days“ wünschte. Fürsorglich und ausführlich, bis ins kleinste Detail konkret und mit einem Hauch Informalität zum Abschluss – Eran war an diesem Tag endlich wieder ein richtiger Klassiker gelungen. Oder mit anderen Worten: Wir sind wieder back to normal in Jerusalem, falls es so etwas hier gibt.