Gefährliche Geduld

Das Niemandsland beginnt kurz hinter der jüdischen Siedlung Har Adar und dem palästinensischen Dorf Qatanna, wenige Kilometer im Nordwesten von Jerusalem. Die „Green Line“, die nach dem Waffenstillstand mit Jordanien 1949 die Außengrenze Israels war und seit dem Ende des Sechstagekriegs 1967 die Grenze zwischen Israel und den besetzten Gebieten markiert, spaltet sich hier in zwei Demarkationslinien, die einen schmalen Streifen Land einschließen. 1949 hatten Israel und Jordanien sich darauf geeinigt, dass diese Fläche von nicht einmal 46 km² Niemandsland bleiben sollte, und auch nach 1967 hat Israel den Landstreifen nicht annektiert.

Die Green Line schlägt dort einen Haken ins israelische Gebiet, und das Niemandsland wirkt wie eine Pufferzone um dieses eigentlich palästinensische Stück Land, das die Israelis den „Latrun Finger“ nennen. Doch die drei palästinensischen Dörfer, die dort einst standen, sind schon vor vielen Jahren zerstört worden. De Facto ist mit den Siedlungen Maccabim im Niemandsland und Modi’in Illit und Mewo Choron hinter der Green Line nicht nur das Niemandsland israelisch geworden, sondern sogar die Gebiete jenseits der Demarkationslinie. Israelische Soldaten und Grenzposten kontrollieren hier die Straßen, und mitten durch den Latrun Finger soll in wenigen Jahren die Hochgeschwindigkeitsstrecke von Tel Aviv nach Jerusalem verlaufen. Vor nicht einmal fünf Jahren wurde mit der Planung dafür begonnen.

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Im Nordwesten von Jerusalem ragt der Latrun-Finger ins israelische Gebiet – doch auch er selbst ist nur auf dem Papier noch palästinensisch.

 

Lange Zeit war die Green Line die Verhandlungsgrundlage für die Zweistaatenlösung. Doch was im Niemandsland geschah, ist symptomatisch für die gesamte Westbank: Israel hat Realitäten geschaffen. Hier ein Dorf, da eine Zugstrecke, dort eine große Stadt. Ganz Jerusalem ist umgeben von kleinen und großen Siedlungen, die die an manchen Stellen nur sechs Kilometer breite Einzugsschneise im Westen der Heiligen Stadt für die Israelis verbreitern und im Osten einen Puffer um die Stadtgrenzen bilden sollten. Um die Siedlungen hat Israel die stellenweise bis zu acht Meter hohe Mauer um die Westbank errichtet, weit hinter der Green Line und so, dass die palästinensischen Zufahrtsstraßen zu den großen Städten wie Ramallah und Bethlehem zerschnitten wurden. Und weder der Bau von Betonwällen, noch der von Siedlungen ist von politischer Seite abgeschlossen: Einige Strecken der Mauer sind noch unvollendet, und im Osten Jerusalems ist eine weitere Siedlung geplant, die die Siedlung Ma’ale Adumim mit ihren 40.000 Einwohnern mit Jerusalem verbinden soll und die Heilige Stadt damit endgültig abschneiden würde von der Westbank. Zuletzt hat das Wohnungsbauministerium im vergangenen Jahr 1500 neue Wohnbauprojekte in den besetzten Gebieten ausgeschrieben.

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Mit den Füßen auf der Demarkationslinie: Von der Green Line bei Modi’in lässt sich fast das gesamte Niemandsland überblicken.

 

Längst steht deshalb eine Teilung Israels entlang der Green Line nicht mehr zur Debatte. Stattdessen wird über einen Tausch verhandelt: Die bereits innerhalb der Mauer liegenden Siedlungsgebiete sollen auch offiziell zu israelischem Boden werden, dafür werden Gebiete um den Gazastreifen palästinensisches Territorium. Doch wer sich die zerstückelte Westbank anschaut, muss sich fragen, wie das möglich sein soll. Viele palästinensische Dörfer und Städte sind bereits nicht mehr über ihre normalen Zufahrtswege erreichbar, weil diese von den Siedlungen unterbrochen werden. Stattdessen führen Tunnel von Ramallah nach Bir Nabala, und von Bir Nabala nach Biddu, und von Beituniya im Südwesten Ramallahs nach Bayt Ghur el Foqa, und von dort unterhalb der von Israel kontrollierten Straße 443 wieder Tunnel in die umliegenden Dörfer. Eigentlich ist es sogar falsch, von „der Mauer“ zu sprechen, denn in der Westbank gibt es immer wieder Betonmauern, die mithilfe von mehr als 250 Checkpoints nicht nur die Palästinenser von den Israelis trennen, sondern die ganze Region für die Palästinenser nur schwer passierbar machen. Teilweise verlaufen die Trennlinien sogar mitten durch (ehemals) palästinensische Städte.

Mit der gerade gebildeten Regierung Israels ist die Zweistaatenlösung wieder in weite Ferne gerückt. Und in der Westbank, die selbst zu einer Art Niemandsland ohne klare Zuständigkeiten und oft auch ohne durchsetzbare Rechte für ihre Einwohner geworden ist, wird gewartet: Die Palästinenser blicken hoffnungsvoll auf die Urteile der Internationalen Gemeinschaft, die die israelischen Siedlungen als illegal bezeichnet hat, und warten auf die Durchsetzung dieser Urteile und die Rückkehr in ihre ehemaligen Häuser und die Wiederöffnung der Straßen für sie. Doch auch die Siedler warten: Auf die Fertigstellung der Mauer und den Bau der bereits geplanten Siedlungen. Manche von ihnen sind das Warten leid geworden, und vergrößern die Siedlungen eigenständig und vertreiben so auch ihre palästinensischen Nachbarn, weil das Militär um Siedlungen automatisch Pufferzonen errichtet, in denen sich keine Palästinenser aufhalten dürfen. In Städten wie Hebron fallen auf diese Weise nach und nach immer mehr Häuser, Marktgebäude und Straßen unter israelische Kontrolle, und mit der Zeit werden auch die zunächst noch illegalen Außenposten legale Siedlungen und die Mauern verschieben sich wieder ein paar Kilometer weiter.

Zu glauben, die Situation in der Westbank bleibe einfach beim Status Quo, weil die aktuelle Regierung die Zweistaatenlösung ablehnt, ist eine gefährliche Illusion. Mit kleinen Schritten und ohne großes Aufsehen ändern sich hier nach und nach die Machtverhältnisse. Und das Warten der Palästinenser wirkt in Anbetracht dessen wie eine Ohnmacht – denn die Zeit arbeitet gegen sie.

 

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