»Das Schwierigste sind die Kinder«

Als säkulare Westeuropäerin musste ich mich in meinen ersten Wochen in Jerusalem vor allem an zwei Dinge gewöhnen: Die Menge an jüdischen, muslimischen oder christlichen Heiligtümern und die Menge an Kindern in der Altstadt. Während ich mit ersterem gerechnet hatte, kam letzteres ziemlich unerwartet. Denn mindestens genauso oft, wie ich plötzlich zufällig einem Heiligtum gegenüberstand und besondere Verhaltensregeln befolgen musste, stieß ich in Jerusalem auf Horden kleiner Jungen und Mädchen, die in Deutschland als Kindergartengruppe durchgehen würden, hier aber einfach nur Geschwister auf dem Weg zum nächsten Spielplatz waren. Während meines ersten Ausflugs an die Klagemauer hatte ich kaum Augen für etwas anderes, denn um mich rum wuselte und wimmelte es die ganze Zeit. Und als ich zum dritten Mal in einer der engen Gassen in der Altstadt feststeckte, weil vor mir eine Schar unkoordiniert in der Gegend herumrennender Kinder unterwegs war, fragte ich mich, wie es die orthodoxen Mütter wohl anstellen, wenn sie mit ihren sechs, sieben oder mehr Sprösslingen im Gepäck mal auf die Toilette müssen, einen Anruf bekommen, oder zwei Minuten brauchen, um eine noch nicht matschige Avocado aus dem Berg an Früchten beim Händler auf dem Markt zu suchen.

Es war auch bei diesem ersten Ausflug in die Jerusalemer Altstadt, dass mich ein kleiner Junge schlug. Der Knirps war vielleicht sechs oder sieben Jahre alt, und offensichtlich störte es ihn, dass ich ein Bild machen wollte – zumindest haute er mir kurz, aber gezielt, mit der Handkante gegen die Hüfte als ich meine Kamera zückte. Ein bisschen ratlos schaute ich dem Kleinen nach, als er in einer der engen Gassen verschwand. Von da an fiel mir immer wieder auf, wie häufig es Minderjährige sind, die Verstöße gegen die Regeln ihrer Glaubensgemeinschaften bestraften. Neben der Benutzung elektronischer Geräte am Shabat gehört dazu vor allem das Tragen von in den Augen (ultra)orthodoxer Juden unangemessener Kleidung durch Frauen, und wird mit Hieben, Steinewerfen und Beschimpfungen sanktioniert. In Jerusalem waren diese Begegnungen noch weitgehend harmlos, und irritierten mich einfach nur: Was macht man mit einem Kind, das, wenn nicht in deren Auftrag, dann zumindest aus den religiösen Überzeugungen seiner Eltern heraus handelt? Mir tun die Knirpse vor allem Leid. Erst außerhalb Jerusalems, bei einem Ausflug in die Stadt Hebron im eigentlich palästinensischen Autoritätsgebiet, in der jüdische Siedler nach und nach immer mehr Gebäude und Gelände in ihren Besitz bringen, wurde mir die politische Seite dieses Dilemmas bewusst: Auch hier werden die Kinder als nahezu unantastbare Kämpfer für extreme religiöse oder nationalistische Überzeugungen missbraucht, doch im Konflikt zwischen israelischen Siedlern, Palästinensern und den Soldaten der Israeli Defence Forces (IDF) haben ihre Handlungen eine gänzlich andere Tragweite.

Der Reiseführer oder »Madrich«, der uns durch Hebron führte, war selbst während seiner Militärzeit dort stationiert gewesen und kritisierte nun als Mitglied der Organisation »Breaking the Silence« (BTS; dt: »Die Stille durchbrechen«) die jüdischen Siedler und die israelische Siedlungspolitik. Damit sind die Touren nicht nur den dort stationierten Soldaten, sondern vor allem den Siedlern ein Dorn im Auge, und es dauerte nicht lange, bis auch hier die ersten Steinchen in unsere Richtung flogen und kurz darauf eilige Kinderschritte in einem der Häuser verschwanden. Unser Madrich seufzte nur: »Das Schwierigste für mich waren immer die Kinder. Wie soll man ein Kind für eine Handlung bestrafen, wenn man weiß, dass es eigentlich im Auftrag handelt und gar nicht richtig versteht, was es da warum tut?«. In einem schmalen Heft, das er während der Tour austeilt, berichten ehemalige Soldaten von Siedlerkindern, die Palästinenserkinder angriffen und auf Anweisung ihrer Eltern Geschäfte und Händler bestahlen. Der Umgang mit den Kindern der Stadt, erklärt unser Madrich, sei nicht nur ein moralisches, sondern auch ein rechtliches Dilemma: Während israelische Kinder nach Zivilrecht behandelt werden und erst mit 14 strafmündig sind, gilt für die palästinensischen Kinder Kriegsrecht und damit nicht nur ein niedrigeres Strafmündigkeitsalter, sondern auch keine Unschuldsvermutung. Jede Provokation stärkt damit das ungleiche Kräfteverhältnis zwischen Siedlern und Palästinensern und führt häufig zur Verhaftung palästinensischer Minderjähriger.

Bei unserem weiteren Gang durch die Altstadt Hebrons begegnen uns fast nur Kinder und Soldaten; Erwachsene ohne Uniform sehen wir nur in den vorbeifahrenden israelischen Autos. Immer wieder rennen jüdische Kinder und Jugendliche auf uns zu; manche begrüßen unseren Madrich mit Handschlag, andere mit Beschimpfungen. Für die Soldaten, erklärt er uns als er unsere Verwunderung bemerkt, sei die Situation nicht nur rechtlich schwierig: Oft entstünden im Zusammenleben mit den Siedlern familienähnliche Strukturen. »Ich kam als junger, überzeugter Soldat hierher; war für einen Krieg gegen palästinensische Terroristen ausgebildet worden. Doch dann saß ich da im Militärstützpunkt, in dessen Mitte sich auch Häuser von Siedlern befinden, und da ist kein Krieg, sondern vor allem Langeweile. Und ich vermisste meine Familie, und meinen kleinen Bruder, und dann spielte ich mit dem Sohn der Siedler, und aß mit der Familie zu Mittag. Und plötzlich schneidet der Kleine den Zaun des Stützpunktes durch, weil seine Eltern sich daran stoßen, dass wir am Shabat die elektrischen Tore bedienen.« Statt ihn daran zu hindern oder zu bestrafen, habe man dann einen Ein- und Ausgang für die Siedler gebaut, der sich auch ohne Strom bedienen lässt. Und wer traut einem Achtjährigen schon zu, die Ansichten seiner Eltern kritisch zu reflektieren? Weil dazu nicht nur das Verbot von Elektrizität am Shabat gehört, sondern auch die Überzeugung, dass die Ankunft des Messias durch die Inbesitznahme Israels beschleunigt werde, verwundert es nicht, dass immer jüngere Siedler beginnen, illegale Außenposten in den palästinensischen Gebieten zu errichten. Und die IDF-Soldaten können diesen Siedlungen nicht nur zahlenmäßig kaum Herr werden – oft befänden sie sich zusätzlich in einem moralischen Konflikt, seien häufig mit ähnlichen religiösen Überzeugungen aufgewachsen wie die Jugendlichen und nur wenige Jahre älter als sie, erzählt unser Madrich.

Kurz vor Ende unserer Führung durch Hebron kommt aus einem der Siedlerhäuser eine ganze Schar Kinder mit Flyern und Hochglanz-Broschüren gerannt: »Breaking the lies« steht darauf, »Die Lügen durchbrechen«. Als ich eines von ihnen frage, was es mir da gerade in die Hand drückt, sagt der kleine Junge: »Ich weiß nicht. Meine Mama hat gesagt, ich soll euch das geben«. Und unser Madrich lacht, irgendwo zwischen tatsächlich amüsiert und zynisch-verbittert.

Woanders stehen Kinder für die Zukunft, und bringen mich, oft unbewusst, zum Lächeln. In Israel ist das anders. Hier, und vor allem in der Westbank, verursachen sie bei mir Bauchschmerzen. Nicht nur im metaphorischen Sinne wird auf den Schultern der israelischen genauso wie der palästinensischen Kinder ein Konflikt ausgetragen – und das auch in weitaus brutalerem Ausmaß, als dem, das ich erlebt habe: Sie werden in Israel tatsächlich wie Waffen eingesetzt, und, von der Hamas genauso wie von den IDF, als menschliche Schutzschilde missbraucht. Immer wieder werden so Situationen provoziert, in denen »richtig« und »falsch« aufhören zu existierten und die nie ein gutes Ende haben; im besten Fall entsteht Handlungsunfähigkeit, im schlimmsten entstehen Bilder, gegen die Worte machtlos sind. Und es wachsen israelische und palästinensische Erwachsene heran, die die jeweils anderen nur als abstraktes Feindbild kennen. Was nicht entsteht, ist eine Basis für ein friedliches Zusammenleben.

 

3 Kommentare

  1. Liebe Anna,

    du bist sehr aufmerksam und beschreibst sehr genau und im Detail, die Erfahrungen ud Beobachtungen, die du in deinem Umfeld und ganz besonders in dieser spannungsgeladenen Region „Palästina“ machst. Was du beschreibst, sind vor allem Dinge, die man sonst nicht so leicht erfährt, vor allem aus der Entfernung nicht und nicht durch die doch recht oberflächliche Berichterstattung der deutschen Mainstreammedien. Ich bin gespannt, was wir von dir noch zu lesen bekommen.

    Liebe Grüße

    Papa

  2. Hallo Anna,
    du hast in der kurzen Zeit die du da bist, schon viele Eindrücke gewonnen. Es ist ein toller Beitrag. Ich warte schon auf den nächsten.

    Liebe Grüße
    Omi

    • Hallo Omi,

      schön, zu sehen, wie selbstverständlich du im Netz unterwegs bist! Wenn ich weiß, dass du hier mitliest, führe ich mein öffentliches Tagebuch noch lieber 😉

      Umarmung in den Spessart,

      Anna

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