Hohe Bäume, ein alter Citroën mit Anhänger, eine dicke Schneedecke. Rocker mit langen Mähnen, die im Wagen Musik hören, sich unterhalten, headbangen, Bier trinken, mitsingen, dösen. Die Inszenierung „La Mélancolie des dragons“ von Regisseur Philippe Quesne am HAU Berlin beginnt mit einer quälend langen Ouvertüre. Irgendwann öffnet sich die Autotür, die Insassen steigen aus: Etwas am Wagen scheint nicht zu stimmen. Eine Passantin kommt, wird herzlich willkommen geheißen, begutachtet das offensichtliche Chaos unter der Motorhaube. Immer noch hat niemand etwas gesagt, was an ein Publikum gerichtet sein könnte. Dann zückt die Passantin ihr Handy, wählt, hält sich das Gerät ans Ohr, und der erste Satz ertönt: „Hast du einen Verteilerkopf für einen Citroën?“. Befreite Lacher im Publikum – endlich geht es los. Bloß womit? Weil der Verteilerkopf erst in sieben Tagen geliefert wird, richten sich die Rocker häuslich ein. Ihr Anhänger entpuppt sich als Glaskasten, in dem Requisiten eines künftigen Attraktionsparks transportiert werden und Perücken auf Knopfdruck im Ventilatorenwind wirbeln. Verhaltenes Kichern im Publikum, als die Rocker mit überschwänglicher Begeisterung ihre recht banalen Sehenswürdigkeiten präsentieren. Isabelle aber ist fasziniert: Seifenblasen, Nebel, Musik, wechselnde Beleuchtung, aufblasbare Planen? Aaaah, ooooh, wow! Ich frage mich eine ganze Weile, wann das Stück endlich Fahrt aufnimmt oder Tiefe gewinnt.
Doch das Auto bleibt Auto, der Hund springt und schläft nach Lust und Laune, die zugewandte Harmonie der Rocker im Umgang miteinander erweist sich nicht als trügerische Illusion aus vergangenen Zeiten. Als eine der Plastikplanen schließlich vom Ventilator aufgeblasen und zur Projektionsfläche wird, Gemälde von Albrecht Dürer und Caspar David Friedrich darüber flimmern und scheinbar wahllos Titel und Autoren der Bücher aus der als „Bibliothek“ bezeichneten Kiste vorgelesen und mit „Aaahs!“ und „Oooohs!“ bestaunt werden – da frage ich mich, was das Ganze eigentlich soll. Und das immer wiederkehrende, euphorische „We can show you!“ der Rocker zu ihrer Test-Besucherin Isabelle, das von ihr jedes Mal mit einem ebenso euphorischen „Of course!“ beantwortet wird, wirkt zunehmend grotesk, und sorgt vor allem für die Erheiterung des Publikums.
Als die Protagonisten über Namen für den Park nachdenken – Parc Dürer? Melancholy Parc? Parc Antonin Artaud? – und Isabelle eine Bildschirmschonerprojektion für eine der Attraktionen hält, dämmert mir langsam: Hier reflektiert jemand den Theaterbetrieb, wundert sich darüber, mit welcher Begeisterung willkürliche Showeffekte und Hochkulturreferenzen inszeniert und schließlich beklatscht werden, macht sich lustig über die Mechanismen von Schlagwortdropping, nach denen Stiftungsgelder beantragt und bewilligt werden. „La Mélancolie des dragons“ treibt die Willkür der Verweisanordnungen auf die Spitze und übersteigert die Euphorie für das Uninspirierte. Prompt begeistert sich Isabelle schon wieder für eine „Choreographie“, bei der die Rocker mit einer aufgeblasenen Plastikhülle über ihren Köpfen im Kreis laufen. „It’s magic!“. Ja, klar.
Und die Protagonisten werden nicht müde. Wieder werden Nebelmaschine und Ventilator hervorgeholt, erneut die Seifenblasenmaschine bemüht, noch einmal die Beleuchtung geändert. Einer der Rocker erklärt verzückt die neue Installation: Der Rauch eines Feuers! Der Wind! Die Blasen aus Wasser und Wind! Das Licht! Und plötzlich entsteht auf der Bühne ein Bild, in dem Nebel und Schnee verschmelzen und Isabelle von der Banalität der Elemente umspielt eine ganze Weile lang wie magisch erleuchtet auf einer Leiter steht. „It’s magic!“, ruft Isabelle erneut. Doch diesmal ertappe ich mich dabei, staunend zu nicken, so surreal schön ist dieses Bild.
So schön, dass mir Zweifel kommen: Kritisiert hier wirklich jemand das Theater? Jetzt erst merke ich, dass ich auf der Suche nach Metaebenen und Ambivalenzen alles getan habe, außer, mich auf die Inszenierung, mich auf die Schönheit ihrer unmittelbaren Sinnlichkeit und ihren Humor einzulassen. Der utopisch schönen, aber auch banal einfachen Vorstellung von netten Menschen, die sich an alltäglich Schönem erfreuen, konnte oder wollte ich genauso wenig trauen wie der Intensität der entstehenden Szenen. Quesne bringt mit seiner Kompagnie „Vivarium Studio“ etwas auf die Bühne, was dort in den letzten Jahren selten Platz gefunden hat: Die Langsamkeit des alltäglichen Lebens mit dessen selten dramatischen Anordnung von Ereignissen. Und er entdeckt in dieser Gewöhnlichkeit eine außergewöhnliche Schönheit und Poesie; inszeniert in stellenweise fast schon unerträglicher Gelassenheit surreal schöne Bilder ohne Narrativ und doppelten Boden. Und stellt dabei zur Diskussion, ob und wie das überhaupt noch möglich sein kann, im Theater, auf der Bühne, in zeitgenössischen Sehgewohnheiten.
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Nach Halt am Frankfurter Mousonturm und am Berliner HAU gastiert die schon 2008 uraufgeführte Inszenierung seit heute, Dienstag den 19.01.2016, für drei Abende an der Kaserne Basel.