Ein anderer Takt: Wandern in der Westbank

Eigentlich war es vorprogrammiert: Die Heilige Stadt macht mich wahnsinnig. Ständig funktioniert in Jerusalem etwas nicht so, wie es soll. Wenn nicht gerade die Busse wegen Shabat/Marathon/Tasche, die in die Luft gejagt werden muss, nicht regulär (sic!) fahren, ist die Stadt mal wieder von religiösen Pilgern verstopft. Oder es fallen vier Zentimeter Neuschnee, und meine Seminare fallen aus und alle Supermärkte schließen. Oder meine Mitbewohnerin kommt völlig aufgelöst nach Hause, weil sie von kleinen Kindern wegen ihrer „unangemessenen Kleidung“ mit Steinen beworfen wurde. Oder der halbe Supermarkt ist leergeräumt, weil in der Pessachwoche Brot, Nudeln, Cornflakes, Bier, Whisky und auch sonst alles, was Getreide enthält und länger als 18 Minuten mit Wasser in Berührung war, verboten ist.

Immer, wenn mich jemand fragt, ob ich mich „inzwischen eingelebt“ habe, möchte ich am liebsten losschreien. Denn in dieser Stadt kann man sich nicht einleben.

In der Osterwoche kam dann alles zusammen. In Hebron riegelte das israelische Militär die Straßen ab, weil es die Entführung eines Israelis vermutete, und für ein paar Stunden sah es so aus, als könnte der Konflikt im Land, der seit ein paar Monaten zur Ruhe gekommen war, wieder ausbrechen. Meine Professorin ließ zwei Verabredungen mit mir platzen, nur um dann bei der dritten in 90 Minuten so widersprüchliche Ratschläge zu geben, dass ich mein ganzes Forschungsprojekt in Frage stellte. Und plötzlich hatte ich auch noch Heimweh. Irgendwie war einfach alles zuviel, und ich verbarrikadierte mich mit Süßigkeiten in meinem Zimmer und wurde immer niedergeschlagener.

Ich war meinem ersten Zusammenbruch nahe, als der Anbieter „hike palestine“ mit einer Tour in meiner Facebook-Timeline aufpoppte. Und während in Jerusalem mal wieder eine Horde Menschen in seltsamen Kleidern auf den Spuren Jesu pilgerte (orthodoxes Ostern!), begab ich mich auf die Spuren von Eva. Die hatte mir nämlich kurz vor ihrer Abreise noch den Tipp mit dem Wandern in der Westbank gegeben. Und die Wüste lehrte mich, was ich in Jerusalem verlernt hatte: Atmen. Zum ersten Mal seit Tagen bekam ich wieder richtig Luft.

Als ich samstagmorgens um sieben Uhr auf den Bus nach Ramallah wartete, blickte ich immer wieder nervös auf mein Handy. Es regnete in Strömen, und in der Ferne kündigten grelle Blitze das herannahende Unwetter an. Ich war mir sicher: Gleich würde ein Anruf kommen, und die Wanderung abgesagt werden. Doch das Klingeln blieb aus. Und ich war froh um Schirm und Regenjacke, als ich eine halbe Stunde später in Ramallah immer noch durch Regenschauer zum Treffpunkt lief und mich schon dafür verfluchte, nicht zuhause geblieben zu sein.

Doch die Wüste tickt anders. Kaum dass unser kleiner Tourbus die Stadt verließ, war die Straße trocken. Und als wir kurz darauf am Eingang zum Wadi Qelt ankamen, war der Himmel zwar noch bewölkt, klarte aber mit jedem Schritt, den wir tiefer in die blühende Steinwüste wanderten, mehr und mehr auf.

An tiefe Felsschluchten schmiegten sich abenteuerliche Gebäudekonstruktionen, und wo das 2000 Jahre alte Aquädukt aus der Römerzeit unseren Weg kreuzte, umgaben uns grüne Wiesen und farbenfrohe Blüten.

Im Gebirge klettern vereinzelt Ziegenherden und Esel, und dann und wann huschten Murmeltiere über die schmalen Wege zu unseren Füßen. Und immer wieder kam auch die Sonne hervor.

Hinter uns lag der Regen, und vor uns nur der nächste Aufstieg, der nächste schmale Pfad durch hohe Gräser oder der nächste Wasserlauf. Als nach einigen Stunden ein altes Kloster vor uns auftauchte und wir zum ersten Mal in der Tiefe wieder Menschen sahen, hatte ich fast vergessen, dass wir uns noch immer in einem Land befanden, in dem religiöse Menschen mit Schildkappen in Bussen zu heiligen Stätten gekarrt werden. Ungern wurde ich daran erinnert. Doch Suhail, unserem Führer, schien es ähnlich zu gehen: Vor dem Abstieg zum Kloster gab er uns eine ausgiebige Pause – mit einem Augenzwinkern und dem Hinweis, dass bis zum Aufbruch das Kloster geschlossen und die Menschen verschwunden sein würden. Und tatsächlich hatten wir die Wüste wieder für uns, als wir den letzten Abstieg begannen und in der Ferne zwischen den Hügeln Jericho auftauchte.

Auf der Fahrt zurück döste ich ein bisschen vor mich hin, und war beim Heimkommen nach Jerusalem viel zu erschöpft um darüber nachzudenken, wie viele unfertige Hebräischhausaufgaben, angefangene Methodikartikel und ungelesene Theorieabhandlungen sich auf meinem Schreibtisch türmten. Erschöpft – aber glücklich. Mit müden Füßen und berauschten Gedanken fiel ich einige Stunden früher als sonst in den Schlaf. Als mich am nächsten Morgen die Sonnenstrahlen weckten schaute ich als erstes auf mein Handy: Fast 24 Stunden ohne schlechtes Gewissen, ohne Magengrummeln oder Kopfschmerzen! Ich war wieder angekommen in der Welt, in der mit Zeit gerechnet wird. Doch ein leichtes Ziehen in meinen Muskeln, die sich nur langsam wieder an die Erdanziehung gewöhnen, erinnert mich noch an das Gefühl von Schwerelosigkeit von Zeit und Raum in der Wüste.

 

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