In Deutschland verlasse ich das Gebäude, wenn ein Zivilist eine Pistole ungesichert bei sich trägt; dann informiere ich die Polizei. In Israel sehe ich, dass dem jungen Mann am Tisch vor mir in der Bibliothek in der Universität eine Waffe locker im Hosenbund seiner Jeans steckt, nähere mich in normaler Schrittgeschwindigkeit seinem Tisch, setze ein freundliches Lächeln auf und frage höflich: „Hey, entschuldige, würde es dich stören, die Musik leiser zu machen?“. Die dumpfen Bässe seiner Elektromusik stören nämlich schon seit einer geraumen Weile meine Konzentration.
Viel zu schnell – das wird mir vor allem, wenn ich mit Neuankömmlingen oder Besuch in der Stadt unterwegs bin, bewusst – habe ich mich an die Omnipräsenz der Waffen hier gewöhnt. Im Bus in die Stadt stößt in jeder Linkskurve ein Maschinengewehr an mein Knie, auf tinder posieren ca. 10% der Israelis in Militäruniformen und mit umgehängter Waffe. Beim Einführungsvortrag an der Uni bittet man uns, beim Anblick von Zivilisten mit Waffe im Seminar, in der Bibliothek und in der Cafeteria doch bitte nicht die Uni-Security zu informieren. Und abends im Club stehen Soldatinnen in voller Montur vor mir auf der Tanzfläche.
Waffen gehören hier zum Alltag. Denn Israels Bevölkerung fühlt sich unsicher. Und seitdem ich hier angekommen bin, kommt auch mir die Gefahr allgegenwärtig vor – jedoch nicht in erster Linie durch Bomben aus Gaza oder Attentäter im Bus, sondern durch all die kleinen Dinge, die uns, die wir hier leben, jeden Tag bewusst machen, dass dieses Land und seine Einwohner bedroht sind und sich bedroht fühlen. Hier ein Soldat, da ein Zivilist mit Waffe. In fast jedem Haus ein Luftschutzbunker, Tag und Nacht Sirenen, regelmäßige Taschenkontrollen und Bodyscans. Hin und wieder die Sperrung eines Straßenabschnitts, weil eine unbeaufsichtigte Tasche von den Sicherheitsleuten vorsichtshalber mal in die Luft gejagt wird.
Als Netanyahu kurz vor der Wahl seinen Sieg in Gefahr sah, sagte er in einem Interview mit der Jerusalem Post „Israels Sicherheit“ sei in „großer Gefahr“ falls seine Kontrahenten Isaac Herzog und Tzipi Livni die nächste Regierung bilden würden. Er spekulierte – am Wahltag zeigte sich: erfolgreich – auf ein Phänomen, dessen Existenz sich außerhalb Israels nur schwer nachvollziehen lässt: Netanyahus Umfragewerte steigen immer dann, wenn in der öffentlichen Debatte die Sicherheitsprobleme des Landes im Zentrum stehen. Unter dem Titel „Wer Angst säht, wird Gewalt ernten“ erläuterte kurz nach den Anschlägen im November 2014 der in Tel Aviv lebende Professor für Psychoanalyse Carlo Stenger, warum diese Meinungsmache Israel und seiner Sicherheit vor allem schadet. Doch Netanyahu schürt die Angst, wann immer er sie politisch nutzen kann.
Und in einem Land, in dem jeder jemanden bei einer Terrorattacke verloren hat oder jemanden kennt, der mit einer Verletzung oder überhaupt nicht aus dem Krieg zurückgekehrt ist, trifft er einen Nerv – und zwar auch, weil man in Israel nie so genau wissen kann, was als nächstes passiert. Anfang der Woche verschwand ein Israeli in der Nähe der Stadt Hebron in der palästinensischen Westbank. Noch bevor klar war, was passiert ist, sperrten die Israelischen Sicherheitskräfte das Gebiet ab und kündigten an, den Vorfall solange als Entführung zu behandeln, bis etwas anderes bewiesen sei. Die Zeitungen und Nachrichtensendungen stürzten sich auf die Meldung und der ARD-Nahost-Korrespondent Richard C. Schneider twitterte „So begann Gaza-Krieg 2014“. Und meine israelische Freundin neben mir wurde beim Lesen der Meldungen kreidebleich, und sagte knapp: „Mein Bruder leistet gerade Militärdienst“. Dass sich der Vorfall schließlich als vorgetäuschte Entführung herausstellte, änderte nichts an ihrem mulmigen Bauchgefühl, von dem sie sagt, dass es eigentlich nie so richtig verschwindet. Und für ein paar Stunden sah es mal wieder so aus, als würde der Konflikt erneut eskalieren.
Längst hat sich zum Bewusstsein der realen Bedrohung eine schwer greifbare Angst in den Köpfen dazugeschlichen, die aufrechterhalten wird durch Sicherheitsvorkehrungen, die das Gefühl von Gefahr verstärken und von denen inzwischen niemand mehr so genau sagen kann, ob sie notwendig sind oder die Bevölkerung des Landes nicht vor allem in permanenter Alarmbereitschaft halten. Das Ergebnis ist einerseits eine breite Akzeptanz für tiefgehende Eingriffe in die Privatssphäre und Freiheitsrechte der Bewohner Israels, die hinnehmen, dass im Namen der Sicherheit ihre Taschen durchsucht, ihre Mails gelesen und ihre Kreditkartenabrechnungen überprüft werden. Aber die Angst führt auch zu wenig Protest gegen die oft willkürliche Diskriminierung der Palästinenser im Land. Denn viele meiner israelischen Freunde, die Praktiken wie Racial Profiling oder den Umgang mit den Bewohnern der Westbank kritisieren, wählten bei der letzten Wahl dann doch den Likud, die Partei von Benjamin Netanyahu, der mit rassistischen Äußerungen und einer klaren Unterstützung der Siedlungspolitik Wahlkampf machte. Fast ein bisschen hilflos sagte ein Freund von mir kurz nach der Wahl: „I don’t like that these things happen; I think they are wrong. But nobody knows what would happen if things were changing“. Irgendwo im Hinterkopf sitzt diese diffuse Angst, die ihn „die Palästinenser“ (sic) doch wieder als potentielle Gefahr wahrnehmen lässt und dazu führt, dass ihm der Beibehalt eines ungerechten Ist-Zustandes erstrebenswert erscheint.
Bevor ich nach Israel kam, sagte ein junger israelischer Student zu mir: „Ihr werdet nie verstehen, wie es ist, damit aufzuwachsen, dass deine Mutter dir sagt, worauf du achten musst, wenn du in einen Bus steigst. Wie es ist, in jedem öffentlichen Verkehrsmittel beim Einsteigen jeden Fahrgast zu mustern und ihn nach Indizien abzusuchen, die darauf hindeuten könnten, dass er einen Anschlag plant“. Jetzt, wo ich hier bin, muss ich oft an seine Worte denken. Seit meiner Ankunft habe ich mich oft gefragt, was es aus Menschen macht, in einem Alltag mit Soldaten, Waffen, Luftschutzbunkern und Alarmsirenen erwachsen zu werden und zu leben. Das, was wir nie verstehen werden, hat dieses ganze Land und die, die hier aufgewachsen sind und aufwachsen, tief geprägt. Sich zumindest das bewusst zu machen, erklärt vieles in Israel, das bei mir anfangs immer wieder Kopfschütteln hervorgerufen hat.