Nach meinem Studienende im Januar ließ das schwarze Loch im Februar nicht lange auf sich warten. Bei meinen Eltern fiel mir schon nach ein paar Tagen die Decke auf den Kopf, und ich wartete ungeduldig auf den März, mit dem das begann, was Alltag für mich am nächsten kommt: Ein voller Terminkalender. Von einer Diskussion bei München und meiner Graduierungsfeier in Friedrichshafen zog ich weiter nach Paris. Erst im Zug machte sich neben der Vorfreude auch ein bisschen Erschöpfung bemerkbar: Statt ein paar Tagen Ruhe also wieder Großstadtgewimmel. Und dann stand ich plötzlich, irgendwie unerwartet und völlig planlos, vor der Opéra Bastille. Und bemerkte lächelnd, dass ich angesichts der Bilder des Terrors ganz vergessen hatte, wie schön diese Stadt ist.
Paris, das war für mich lange die Stadt des Louvre, der Crêpes, der linken Intellektuellenszene in zugigen Dachgeschosswohnungen. Mit den Anschlägen im Januar und November des vergangenen Jahres wurde sie plötzlich zur Stadt des in Europa angekommenen IS-Terrors, der Attacken auf eine Redaktion und einen jüdischen Supermarkt, der Attentate auf ein Stadion, in dem Freunde von mir saßen, auf einen Konzertsaal und auf Cafés und Bars, in denen welche von ihnen gesessen haben könnten. Jetzt saß ich selbst mit zwei von ihnen lachend in einem dieser Cafés, bezahlte 8€ für einen Viertelliter Bier, und war erleichtert und ernüchtert zugleich. Keine Bedrohung, aber auch keine zugigen Dachgeschosswohnungen. Ich begann zu akzeptieren, dass das Paris von heute weder das eine ist noch das andere, weder das beängstigende Bild aus den Medien noch das nostalgische Bild aus der Vergangenheit; weder die Stadt der Bohèmiens, noch die Stadt der Angst. Und ich versuchte, mein eigenes Paris zu finden, bei Sonnenspaziergängen durchs Quartier Latin mit seinen nie endenden Bücherkisten, im Gewimmel der Metrostationen, von denen manche größer sind, als das Dorf, in dem ich aufgewachsen bin, zwischen Falafel im jüdischen Viertel, Galette auf der Rue Saint-Antoine und Crêpes und Cidre hinter Sacré-Coeur.
Und dann, plötzlich garnicht mehr unerwartet, stand ich wirklich mittendrin: Paris, Paris. Im Bal in der deutsch-französisch-englischen Sprachenheimat wartete ich auf Alexander Kluge, im Odéon nahm ich in Luc Bondys letzte Pariser Inszenierung beim Schlussapplaus ein bisschen Abschied. Als ich am dritten Tag die Spitze des Eifelsturms in der Sonne leuchten sah, riss ich kurz die Augen weit auf: Hups, den hatte ich ja noch garnicht wahrgenommen, seitdem ich angekommen war! Und packte zum ersten Mal die Kamera aus – nur um dann doch lieber den Freund auf der Brücke vorm Louvre zu fotografieren und es bei diesem Bild bleiben zu lassen; die ganzen fünf Tage lang kommt mir kein einziges Mal in den Sinn, dass sich das Gefühl dieser Stadt auf Film oder Speicherkarte bannen lassen könnte. Stattdessen habe ich die ganze Zeit Musik im Ohr: Charles Aznavour beim Streunern durch Montmartre, Zaz als wir in einem winzigen Park vor den Ich liebe dichs in allen Sprachen stehen, Yves Montand beim Treten in die Pedalen der Pariser Leihfahrräder Vélibs, Yann Tiersen vor dem Photoautomaten am Bahnhof, Garish als das Gefühl überbordet und es eben doch die Stadt der Liebe ist, es eben doch die Sehnsuchtsstraßen unweit von Sacré-Coeur sind, durch die die Liebe läuft, in denen die Liebe stadtbekannt ist, l’amour court les rues.
Aber auch, trotz aller Schönheit und aller Liebe: Die Stadt der roten Warnschilder und –signale, die immer wieder daran erinnern, dass irgendetwas doch anders ist, dass Ausnahmezustand ist und bleiben wird. Vigipirate überall, an den Toren der Universitäten, auf den Websites der Theater, in der Normalität des Militärs auf den Straßen. Das Gefühl des Ertapptwordenseins, als mir klar wird, dass die Maschinengewehre in Jerusalem doch nicht die gleichen sind wie die Maschinengewehre in Paris, dass es dort doch irgendwie die anderen waren und jetzt wir sind, und dass es dort eben schon immer so war und hier gerade erst anfängt. Und dann die Schwermut, als sich vorm Theater die Schlange nicht etwa vor dem Ticketsschalter bildet sondern vor dem Bodyscanner, als man mir aufgrund des fehlenden Studierendenausweises den Zugang zum Campus der Science Po verwehren will, als ich am Pariser Bahnhof meinen Rucksack von meinen Schultern wuchten soll, damit er durchsucht werden kann. Und auf einmal die Erleichterung, als ich doch überall lächelnd durchgelassen werde, auch in die Uni, „je vous ai pas vu!“. Und schließlich das Glück, dass unseren Alltag im Zweifelsfall immer noch die Möglichkeiten bestimmen und nicht das Misstrauen. Und die Hoffnung, dass es so bleiben kann, so bleiben wird. Keine Angst, keine Bohème. Aber diese Hoffnung: Paris, du hast dich verändert, ich habe dich wiedererkannt.
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29.03.2016
Am Sonntag vor einer Woche habe ich Paris verlassen, habe auf dem Weg an die Westküste Frankreichs versucht in Worte zu fassen, wie es mir dort ging während meines ersten Aufenthalts nach den Anschlägen im Januar und im November. Als ich diesen Text vor einer Woche online nehmen wollte, tauchten in den Medien gerade erste Meldungen über die Terroranschläge in Brüssel auf. Plötzlich wirkte das Geschriebene fürchterlich naiv. Vom Gefühl der Ohnmacht gelähmt schob ich den Text wieder in den Entwürfe-Ordner.
In der vergangenen Woche dann wurde meine Timeline geflutet von Artikeln, die dem Terror den Kampf ansagten. Nicht mit Waffen, sondern mit Ignoranz im Angesicht der Barbarei, mit Haltung und Freundlichkeit. Durch schlichtes Weitermachen. Herfried Münkler warnte nach den Pariser Attentaten, der Kampf gegen den Terrorismus müsse „im Modus der politischen und gesellschaftlichen Normalität geführt werden, wenn der selbst zugefügte Schaden mittelfristig nicht größer sein soll als der durch die terroristischen Anschläge“, und Constantin Seibt schreibt nach den Attacken in Brüssel, „das eigentliche Ziel der Attentäter sind nicht Flughäfen oder Metrostationen, sondern die Köpfe“. Ich dachte an einen Kommentar von Claudius Seidl, den ich kurz nach den Anschlägen von Paris gelesen hatte: „Das Ressentiment passt nicht ins Pariser Café, wo jedes Argument mit einem Gegenargument rechnen muss; Überwachungskameras und allgegenwärtige Polizisten wären das Dementi der Freiheit, die dort herrscht.“, hieß es darin. Und ich ärgerte mich über mich selbst. Denn es stimmt ja: Wenn wir über die Gefahren des Terrorismus‘ reden, dann reden wir auch und vielleicht sogar vor allem darüber, welche Aufmerksam wir denen schenken, die ihn begehen, und wie sehr wir uns von ihnen in unserem Alltag und im Umgang mit unseren Mitmenschen beschneiden lassen. Es steht die winzige Chance, dass ich oder einer meiner Freunde oder Bekannten bei einem Anschlag unter den Opfern sind, der viel größeren Wahrscheinlichkeit und Gefahr, dass wir unsere Freiheit, Gemeinschaft und Privatsphäre aufgeben, gegenüber.
Es mag naiv sein, in Anbetracht der Anschläge der vergangenen 14 Monate sogar trotzig. Aber man kann es garnicht oft genug wiederholen und sich selbst bewusst machen: Wir verlieren mehr als uns der Terror von sich aus nehmen kann, wenn wir unsere Offenheit aufgeben und das Misstrauen und das Gefühl der Ohnmacht die Oberhand gewinnen lassen.
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