Das Wort „Utopie“ kommt aus dem Griechischen und bedeutet wörtlich „Nicht-Ort“. Wikipedia sagt: Eine Utopie ist der Entwurf einer fiktiven Gesellschaftsordnung, die nicht an zeitgenössische historisch-kulturelle Rahmenbedingungen gebunden ist. Ob sich ihre Befürchtungen oder Hoffnungen trotz oder wegen ihrer Thematisierung bewahrheitet haben oder nicht, bleibt im Rückblick immer Spekulation, doch schon der Entwurf erfordert Mut: Wer Utopien denkt, der denkt Alternativen, und wer das laut tut, der übt Kritik. Und als einer, der Utopien denkt und ihnen nicht nur auf dem Papier, sondern auch im Leben einen Raum gegeben hat, hat sich der Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger während seines langen Lebens immer wieder erwiesen: Die Kommune 1 lebte zeitweise in seiner Wohnung, er war Gründer und Herausgeber des Kursbuchs und nicht ohne Grund derjenige, bei dem Ulrike Meinhof und Andreas Baader nach dessen Befreiung auf ihrer Flucht – letztlich erfolglos – Unterschlupf suchten.
Im März war ich als Enzensbergers Gesprächspartnerin zum Thema „Kritische Geister: Ein Generationengespräch über Streitkultur“ vom Freundeskreis des Château d’Orion und seinem Partner, dem Gut Sonnenhausen, in die Nähe von München eingeladen. Zur Diskussion stand dabei auch, was ein kritischer Geist überhaupt ist und ob eine Definition dessen nicht immer nur vor den Streitfragen der jeweiligen Generation denkbar ist. Für mich zumindest legten Enzensbergers Erinnerungen an die Zeit der Berliner Revolution und die Tumulte von Vietnamkrieg und Cubakrise diese Vermutung nahe: Einerseits schienen auf internationaler Ebene die Fronten des Kalten Kriegs eindeutig, andererseits war mit der nicht aufgearbeiteten NS-Vergangenheit und der Anwesenheit von Kriegsverbrechern in hohen gesellschaftlichen Ämtern klar, wogegen man kämpfte. Ein kritischer Geist war vor diesem Hintergrund einer, der sich einmischte. Wenn wir heute aber über politisches Engagement reden, dann liegen die Dinge meist nicht mehr so eindeutig, und nicht erst die Mittel, sondern schon die Ziele, für die es sich zu kämpfen lohnen würde, haben fast immer Ambivalenzen und Beigeschmäcker, die nicht nur zu zögerlicherer Einmischung führen, sondern auch die Einmischung und Einmischer selbst immer wieder ins Zentrum der Kritik rücken lassen.
Ohnehin diene der Begriff des „Kritischen Geistes“ zur Selbstbeschreibung, vielen und gern, so Enzensberger – schon das mache ihn der Unbrauchbarkeit verdächtig. Und mir scheint, Menschen entscheiden sich häufig nicht aus Überzeugung für ein politisches Engagement in einem bestimmten Umfeld, sondern aus ihrem Umfeld heraus für ihre Überzeugungen. In einer pluralistischen Gesellschaft, in der es kein einheitliches großes System, sondern unzählige kleine gibt, erscheinen viele, die sich als „kritische Geister“ bezeichnen, inmitten ihres Umfelds schlichtweg konform. Sich für den Erhalt seines nationalistischen und chauvinistischen Weltbildes einzusetzen, macht in Organisationen wie Pegida und AfD das Propagieren von Stammtischvorurteilen nicht zu einer kritischen Handlung. Und sich mit 23 als Student oder Studentin der Gender Studies in einem geisteswissenschaftlichen Umfeld mit den Argumenten von denen, die nicht mindestens Quote und Gender-Gap befürworten, garnicht erst auseinanderzusetzen, hat genauso wenig selbstverständlich etwas mit einem kritischen Geist zu tun. Und Enzensbergers Optimismus, dass „Cliquen“ von selbst immer wieder mit Argumenten Andersdenkender konfrontiert würden und neue Mitglieder ohnehin immer frischen Wind brächten, teile ich schlichtweg nicht.
So bleibt für mich am Ende vor allem die Frage, wie wir in unseren so selektierten Studien- und Arbeitsumfeldern persönlich und auch als Gruppe offen bleiben können für tatsächlich Andersdenkende und deren Argumente, und wie wir vor allem das Selberdenken nicht verlernen. Denn bei aller Notwendigkeit für kritische Geister, die die Unabdingbarkeit des Realen in Frage stellen, führt das Denken von Alternativen nicht per se zu sinnvollen Vorschlägen oder Forderungen. Die Selektion aus ihnen bedarf einer ehrlichen und offenen Streitkultur ohne vorschnelle Urteile und persönliche Diffamierungen. Und dafür braucht es Orte der Begegnung und des Experiments, wo Alltagsstrukturen in einem Umfeld von Offenheit und Toleranz aufgebrochen werden und sich deshalb ehrlich und leidenschaftlich streiten lässt. Und die Suche nach solchen Orten, an denen alles in Frage stehen kann – inklusive des Ortes und seiner Funktion selbst –, ist die Suche nach einem Paradoxon, einer wahrgewordenen Utopie.
In den vergangenen Jahren, das wurde mir im Gespräch mit Enzensberger klar, habe ich immer wieder Menschen kennengelernt, die trotz des Wissens um die Paradoxie ihres Wagnisses begonnen haben zu versuchen, ihrem Entwurf einer Utopie in diesem Sinne einen Raum und eine Zeit zu geben. Vor allem anderen war es eine Entscheidung für eine Lebensweise, die sie dabei getroffen haben: Die mutige Entscheidung dazu, so zu leben, als wäre ihre Utopie bereits Realität – mit allen persönlichen Konsequenzen.
Erst in Sonnenhausen wurde mir klar, dass ich eine so entstandene Utopie vor wenigen Monaten verlassen habe: Die Zeppelin Universität, die mit ihren Gründungsidealen die Sehnsucht vieler großartiger Menschen – StudentInnen genauso wie ProfessorInnen und MitarbeiterInnen – weckte und so sehr kitzelte, dass sie nur durch das Zusammentreffen dieser Menschen plötzlich die Utopie wurde, die sie sein wollte. Das Gespräch mit Enzensberger und die ihm folgenden Diskussionen mit dem Freundeskreis des Château d’Orion bis in die späte Nacht hinein haben in mir die Hoffnung geweckt, dass sie keine Ausnahme ist. Denn auch und vor allem das Château d’Orion selbst mit seinen nie abgeschlossenen Zimmertüren, mit seinen Bewohnern und ihrem Vertrauen gegenüber Menschen und ihrer Offenheit gegenüber neuen Ideen, mit seinen Gästen und den ehrlichen Streits ermöglichenden Denkwochen, ist für mich ein Beispiel für einen Ort, an dem mit unglaublicher Kraft eine Utopie gelebt und trotzdem immer wieder zur Debatte gestellt wird. Dort tun sich Nicht-Zeiten auf, in denen Nicht-Orte plötzlich Raum und Dauer haben, abseits von allem und von aller Wahrscheinlichkeit. Und ich habe jetzt schon Utopienheimweh.
Folge Deinem Stern… sagte Hans-Magnus Enzensberger an diesem Nachmittag, das werde ich nie mehr vergessen. Wie viele leise Töne habt Ihr beiden angeschlagen, das war berührend und ermutigend. Danke auch Dir Anna!