Erinnerungsräume

Drei Wochen lang steckte ich im Spagat zwischen Hausarbeiten, dem Lernen für die Abschlussprüfungen und dem Abschiednehmen von einer Stadt, ihren Menschen und, besonders innig: Von der Kaffeemaschine in meinem Büro. Der Bücherstapel in meinem Regal wuchs, mein Koffeinkonsum ging in die Höhe, und die offenen Tabs in meinem Browser machten das Surfen zunehmend unübersichtlich. In mir herrschte eine verwirrte Mischung aus gestresst und wehmütig. Ständig war etwas „Zum letzten Mal“: Ein letztes Mal gefüllte Weinblätter in der Unimensa essen, ein letztes Mal im Hebräisch-Kurs an den Präpositionen der Verben scheitern, ein letztes Mal in den Sitzsäcken im Ruheraum der Bibliothek einschlafen, ein letztes Mal mit Kolleg_innen und Kommiliton_innen auf der Wiese des botanischen Garten des Campus‘ sitzen.

Und dann stand plötzlich der Besuch vor der Haustür, schob alles andere ganz weit weg und setzte es dabei doch nur fort. Ein letztes Mal am Tempelberg wegen einer zwei Zentimeter zu kurzen Hose gemaßregelt werden, ein letztes Mal in der Jerusalemer Altstadt im Kindergewusel der orthodoxen Familien untergehen, ein letztes Mal im Tmol Shilshom Süßkartoffelravioli essen, ein letztes Mal mit gemischten Gefühlen vor der Mauer in Betlehem stehen. Zeit an sich geht nie zu Ende, sie endet nur an Orten.

Viel zu früh und trotzdem endlich: Jerusalem verlassen. Ein bisschen verloren ein letztes Mal auf den Campus blicken. Den Mietwagen vollstopfen und die überfüllte Stadt hinter sich lassen, auf der Straße gen Süden eine immer karger werdende Landschaft passieren und schließlich ankommen in der Wüste Negev. Den Rucksack packen, und mit dem Sonnenaufgang aufbrechen zum Wandern um den gigantischen Krater Mitzpe Ramons.

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In den Krater steigen, sein Inneres erkunden. Sehen, dass es bunt ist. Spüren, dass es feucht ist. Es verstehen.

In den Schluchten Ein Avdats ankommen. Im Tal des Wasserfalls seinen schmalen Fluss versiegen sehen. Langsam den Abschiedsschmerz spüren und beginnen, ihm ins Angesicht zu blicken. Traurig werden, wütend werden, toben. Zu viel reden, dann verstummen, hilflos sein und machtlos.

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Ein zweites Mal auf die Burgfestung Massada am Toten Meer steigen. Die Sonne beim Schlüpfen beobachten. Genießen, wie frei der Kopf sein kann und wie voll das Herz, wie hoch die Gedanken fliegen und tief die Gefühle gehen können. Die Sehnsucht zulassen, die nicht unterscheidet zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft; die sich gleichzeitig bezieht auf das, was unwiederbringlich vorbei ist, das, was doch eigentlich noch andauert und das, was nur vielleicht in der Zukunft fehlen wird.

Mit gedrückter Stimmung Besuch Nummer 1 verabschieden, die Wüste und das Salzmeer verlassen, am See Genezareth Quartier beziehen. Daran scheitern, über sein Wasser zu wandeln, und stattdessen die Fußsohlen in den spitzen Steinen des Seebodens aufschlitzen. Die Hitze plötzlich zum ersten Mal wirklich spüren und die trockene Wärme der Wüste vermissen. Von Mückenschwärmen zerbissen werden. Erschöpft sein. Die Wanderschuhe auspacken, und in die Golanhöhen aufbrechen. Zwischen üppiger Vegetation und rauschenden Wasserfällen spazieren. Überwältigt sein und sich fragen, ob das noch Israel ist (#isthisreal?). Die Menschenleere der Kammpassage genießen. Allein sein. Hören, wie sich der eigene Atem mit dem Fließen des Stroms vermischt. Die Zeit vergessen.

Zum Parkplatz zurückkehren, unter Eichen picknicken. Sich verfahren, das Skigebiet Hermon passieren. Schwitzend Nimrods Festung erklimmen und die Aussicht genießen. In ihren Zimmern und Gewölben und in den Schluchten zwischen den Hügeln Gedanken ablegen und die Stellen markieren. Erinnerungen sind ortsgebunden, Zeit kennen sie nicht.

Letzte Tage. Ich bin schon längst nicht mehr hier, ich werde immer hier sein. Damals in Israel – wann war das noch?

 

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